Seit März 2021 erscheint in der Reihe »Logbuch Utopiastadt« alle 14 Tage eine Kolumne aus Utopiastadt im Wuppertaler Lokalteil der Westdeutschen Zeitung. Und hier auf der Seite.
Die heutige Kolumne ist von David J. Becher:
Logbucheintrag 0.14
Am Tag der Deutschen Einheit spielen die Wuppertaler Sinfoniker traditionell ein Benefiz-Konzert. Letzten Sonntag für den Wuppertaler Solidarfonds für Kulturschaffende namens EinTopf.
Blick zurück: Schon bevor der erste Pandemie-Lockdown im März 2020 das Kunst- und Kulturgeschäft lahm legte, war uns in Utopiastadt bewusst: Hier kommen schwere Zeiten auf alle zu, die ihr Geld auf, an oder durch Bühnen verdienen. Andere empfanden ähnlich, und so trommelten wir früh eine große Runde Kulturschaffender in einer ersten Videokonferenz zusammen. Statt Ratlosigkeit machte sich Engagement breit, teilweise sicher auch Aktionismus – aber vor allem Solidarität. Denn so vielschichtig, unterschiedlich und oft auch widersprüchlich die Freie Szene in Wuppertal ist, so sehr war uns miteinander klar, dass es für alle schwierig wird. Und für einige bedrohlich. Also machten wir uns gemeinsam daran, neben dem lokalen Stream-Fenster https://stew.one einen Fonds für schnelle und unbürokratische Hilfe aufzusetzen. Das Freie Netz Werk Kultur stellte Konto und Website zur Verfügung, eine Liste zur Besetzung der ersten Jury-Runden war rasch gefüllt und das Kulturbüro war umgehend bereit, die Koordination der Jury-Sitzungen zu übernehmen.
Nun stellte sich die spannende Frage: Wer kann unter welchen Kriterien einen Antrag stellen? Im letzten Jahr habe ich vermutlich so viel über Solidarität geredet und nachgedacht, wie nie zuvor. Ich erinnere mich gut, wie zum Beispiel Ava Weis in einer Runde ein kurzes aber präzises und mich sehr überzeugendes Plädoyer hielt für eine grundsätzlich solidarische Haltung mit Offenheit, Anerkennung anderer Lebenswelten und einer Basis von Zuhören und Ernstnehmen. Andere meinten aber durchaus, dass Spenden aus beispielsweise einem Benefiz-Konzert doch schon solidarisch seien und Anträge ruhig deutlich normierten Bedingungen unterliegen sollten. Und mir wurde bewusst, dass wir nicht nur solidarisches Verhalten, sondern auch die Bedeutung des Begriffs immer wieder miteinander aushandeln müssen. Zumindest, wenn wir uns eine bessere Welt nicht gegenseitig verordnen, sondern sie gemeinsam entwickeln wollen.
Was zum Glück beim EinTopf nie geäußert wurde, ist die seltsame Behauptung, Solidarität sei keine Einbahnstraße. Eine Aussage, die ich schon immer irgendwie falsch fand. Und seit ich im letzten Jahr so viel darüber nachgedacht habe, weiß ich jetzt auch, warum: Wenn Solidarität überhaupt etwas in der Metapherabteilung der Straßenverkehrsordnung zu suchen hat, ist Solidarität vermutlich am ehesten ein Kreisverkehr: Irgendwo kommt was rein, irgendwo anders wieder raus. Überall, wo was rein kommen kann, kann auch wieder was raus kommen, und in der Regel ist es nicht sinnvoll, dort wieder raus zu fahren, wo man reingefahren ist. Ohne eine vollständige Umkreisung kommt man dort auch gar nicht wieder an. Denn so ein Kreisverkehr, so eine bedarfsgerechte Rundumverteilung, ist kein direktes Hin und Her – sondern eine Einbahnstraße.
Infos: https://eintopf-wuppertal.de
Erstveröffentlicht am 07.10.2021 in der Printausgabe der WZ: https://www.wz.de/nrw/wuppertal/stadtteile/elberfeld/eintopf-solidaritaet-und-die-strassenverkehrsordnung_aid-63376849