Seit März 2021 erscheint in der Reihe »Logbuch Utopiastadt« regelmäßig eine Kolumne aus Utopiastadt im Wuppertaler Lokalteil der Westdeutschen Zeitung. Und hier auf der Seite.
Diese Kolumne ist von David J. Becher:
LOGBUCHEINTRAG 0.38
Bei Führungen durch Utopiastadt habe ich viele muntere Antworten auf die Frage, was Utopiastadt eigentlich sei. Im Zweifel: Ein andauernder Gesellschaftskongress mit Ambitionen und Wirkung.
Aber gelegentlich sitze ich selber da und frage mich: Was ist das hier eigentlich? Ein Arbeitsort für die Kreativwirtschaft? Sicher, hier gab es Wuppertals ersten Coworking-Space, lange, bevor es anderswo klassisches Geschäftsmodell wurde. Und viele Menschen, die Ihr Geld in der Kreativwirtschaft verdienen, wie in der Malerei, dem Schauspiel, im Design oder mit Filmen, haben hier gearbeitet oder tun es noch. Also ist Utopiastadt ein Arbeitsort für die Kreativwirtschaft. Aber ist sie nicht viel mehr ein Stadtentwicklungszentrum? Hier haben engagierte Menschen das Forum:Mirke ins Leben gerufen. Eine Quartierskonferenz mit Leuten, die sich aktiv an der Gestaltung des Viertels und seiner Entwicklung beteiligen, oder sich gerne daran beteiligen möchten. Nach ersten Einzelveranstaltungen ist daraus ein regelmäßiges Treffen geworden, Bäume am Carnaps-Platz wurden vor der Fällung gerettet, die Verkaufsabsichten für wichtige Orte wie die Diakoniekirche oder die Gold-Zack-Fabrik wurden frühzeitig in die öffentliche Quartiersdebatte gebracht oder gemeinsam mit der Stadtverwaltung ein Quartiersfonds mit Mitteln der Städtebauförderung ins Leben gerufen. Und natürlich ist auch die Entwicklung der Flächen des Utopiastadt Campus immer wieder Thema im Forum:Mirke. Also ist Utopiastadt klar ein Zentrum für Quartiers- und Stadtentwicklung. Oder vielleicht doch eher ein Schutzgebiet für Zukunftsflächen? Es war lange und mühsame inhaltliche Arbeit, die Flächen des Utopiastadt Campus für eine wirklich freie und wirklich am Gemeinwohl orientierte Gestaltung zu sichern. Dabei war das Großprojekt Solar Decathlon Europe am Ende eine durchaus entscheidende Hilfe. Umgekehrt allerdings hätte es wohl niemals ein solches Projekt in Wuppertal gegeben, wäre die Entwicklung der Flächen vorher ihren klassischen Investoren-Rendite-Gang gegangen. Stattdessen gab es die Expedition:Raumstation, ein spannendes Forschungsprojekt zu urbanen Entwicklungsprozessen, jetzt sind die Flächen Heimat des Livig Lab-NRW, eines weiteren großen, landesweiten Forschungsvorhabens – und zukünftig weiter Experimentierfeld für ganz neue Forschungs- und Entwicklungsideen.
Dass Utopiastadt zudem noch Trassencafé, Gemeinschaftswerkstatt, Bühne und Veranstaltungsort, Bienenheimat oder einfach mal offener Platz für alle inmitten in dichter Besiedelung ist, erscheint da fast wie eine Randnotiz. Und ich gebe zu, das überfordert mich regelmäßig. Doch dabei dämmert mir, was Utopiastadt für mich ist: Ein Fortschritts-Ort. Und zwar nicht herkömmlicher Fortschritt als Wohlstands- oder Technologievermehrung. Sondern Fortschritt in der direkten Wortbedeutung: Einen Schritt weiter. Und dann noch einen. Schritt für Schritt. So komme ich auch hinter der unbändigen Vielfalt hier her. Dabei ist Utopia der Weg. Und Stadt das Ziel.
Erstveröffentlicht am 12.01.2023 in der Printausgabe der WZ: https://www.wz.de/suche/utopiastadt+logbuch