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Logbuch

Fortschritt für Schritt

Seit März 2021 erscheint in der Reihe »Logbuch Utopiastadt« regelmäßig eine Kolumne aus Utopiastadt im Wuppertaler Lokalteil der Westdeutschen Zeitung. Und hier auf der Seite.

Diese Kolumne ist von David J. Becher:

LOGBUCHEINTRAG 0.38

Bei Führungen durch Utopiastadt habe ich viele muntere Antworten auf die Frage, was Utopiastadt eigentlich sei. Im Zweifel: Ein andauernder Gesellschaftskongress mit Ambitionen und Wirkung.

Aber gelegentlich sitze ich selber da und frage mich: Was ist das hier eigentlich? Ein Arbeitsort für die Kreativwirtschaft? Sicher, hier gab es Wuppertals ersten Coworking-Space, lange, bevor es anderswo klassisches Geschäftsmodell wurde. Und viele Menschen, die Ihr Geld in der Kreativwirtschaft verdienen, wie in der Malerei, dem Schauspiel, im Design oder mit Filmen, haben hier gearbeitet oder tun es noch. Also ist Utopiastadt ein Arbeitsort für die Kreativwirtschaft. Aber ist sie nicht viel mehr ein Stadtentwicklungszentrum? Hier haben engagierte Menschen das Forum:Mirke ins Leben gerufen. Eine Quartierskonferenz mit Leuten, die sich aktiv an der Gestaltung des Viertels und seiner Entwicklung beteiligen, oder sich gerne daran beteiligen möchten. Nach ersten Einzelveranstaltungen ist daraus ein regelmäßiges Treffen geworden, Bäume am Carnaps-Platz wurden vor der Fällung gerettet, die Verkaufsabsichten für wichtige Orte wie die Diakoniekirche oder die Gold-Zack-Fabrik wurden frühzeitig in die öffentliche Quartiersdebatte gebracht oder gemeinsam mit der Stadtverwaltung ein Quartiersfonds mit Mitteln der Städtebauförderung ins Leben gerufen. Und natürlich ist auch die Entwicklung der Flächen des Utopiastadt Campus immer wieder Thema im Forum:Mirke. Also ist Utopiastadt klar ein Zentrum für Quartiers- und Stadtentwicklung. Oder vielleicht doch eher ein Schutzgebiet für Zukunftsflächen? Es war lange und mühsame inhaltliche Arbeit, die Flächen des Utopiastadt Campus für eine wirklich freie und wirklich am Gemeinwohl orientierte Gestaltung zu sichern. Dabei war das Großprojekt Solar Decathlon Europe am Ende eine durchaus entscheidende Hilfe. Umgekehrt allerdings hätte es wohl niemals ein solches Projekt in Wuppertal gegeben, wäre die Entwicklung der Flächen vorher ihren klassischen Investoren-Rendite-Gang gegangen. Stattdessen gab es die Expedition:Raumstation, ein spannendes Forschungsprojekt zu urbanen Entwicklungsprozessen, jetzt sind die Flächen Heimat des Livig Lab-NRW, eines weiteren großen, landesweiten Forschungsvorhabens – und zukünftig weiter Experimentierfeld für ganz neue Forschungs- und Entwicklungsideen. 

Dass Utopiastadt zudem noch Trassencafé, Gemeinschaftswerkstatt, Bühne und Veranstaltungsort, Bienenheimat oder einfach mal offener Platz für alle inmitten in dichter Besiedelung ist, erscheint da fast wie eine Randnotiz. Und ich gebe zu, das überfordert mich regelmäßig. Doch dabei dämmert mir, was Utopiastadt für mich ist: Ein Fortschritts-Ort. Und zwar nicht herkömmlicher Fortschritt als Wohlstands- oder Technologievermehrung. Sondern Fortschritt in der direkten Wortbedeutung: Einen Schritt weiter. Und dann noch einen. Schritt für Schritt. So komme ich auch hinter der unbändigen Vielfalt hier her. Dabei ist Utopia der Weg. Und Stadt das Ziel.


Erstveröffentlicht am 12.01.2023 in der Printausgabe der WZ: https://www.wz.de/suche/utopiastadt+logbuch

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Logbuch

Bitte wenden

Seit März 2021 erscheint in der Reihe »Logbuch Utopiastadt« regelmäßig eine Kolumne aus Utopiastadt im Wuppertaler Lokalteil der Westdeutschen Zeitung. Und hier auf der Seite.

Diese Kolumne ist von Benedikt Matthes und David J. Becher:

Logbucheintrag 0.37

Seit 2019 stehen drei Car-Sharing Fahrzeuge direkt vor Utopiastadt. Vergangene Woche ist eine Mobilitätsstation an der Wiesenstraße eingeweiht worden. Noch mehr Car-Sharing, zusätzlich Lastenradparkplätze – und eine Bushaltestelle direkt davor.

Doch während sich Car-Sharing und Fahrradinfrastruktur zwar langsam, aber stetig nach vorne entwickeln, scheint der ÖPNV oft auf der Stelle zu treten. 

Und steckt in einem Dilemma: Zu viel Bedarf, zu wenig Ressourcen. Hiesige Lokalmedien berichten überproportional oft über Schwebebahnausfälle. Weniger Busse aufgrund von Personalmangel sind sogar schon strukturell eingearbeitet. Und doch fallen immer wieder auch kurzfristig Fahrten aus oder verschieben sich durch deutliche Verspätungen. Und wenn der Stau auf der Gathe zuverlässiger planbar ist, als eine Busverbindung ins Büro, wird es für den ÖPNV schwierig, in relevantem Maße zur notwenigen Verkehrswende beizutragen.

Kann hier Digitalisierung kurzfristig helfen?

Es gibt eine WSW-App, es gibt einen Twitter-Kanal und sogar Radio Wuppertal berichtet über aktuelle Ausfälle. Doch leider sind die Informationen dort oft nicht so vollständig und nicht so passgenau, dass sie zumindest bei einer spontanen Umplanung helfen.

Von diversen Tagen der offenen Tür bei der WSW wissen wir, wie eng der Wuppertaler ÖPNV inzwischen digital überwacht und begleitet ist. Zwei Systeme lassen genau nachvollziehen, wo sich gerade welcher Bus befindet: Zum einen gibt es im Cockpit eines, welches den Busfahrer*innen erlaubt, auf den Anzeigen innen und außen die korrekten Linien und ihre Haltestellenverläufe anzuzeigen. Dieses System, die »init«, wie sie von den Busfahrer*innen genannt wird, hat einen Uplink in die Leitstelle der WSW, samt Positionsangaben. Zum anderen verfügen die Router, welche in den Bussen (in den Schwebebahnen noch nicht) das WSW-LAN für die Fahrgäste bereitstellen, über einen GPS-Chip, welcher die Standortdaten sekündlich ans Rechenzentrum des Dienstleisters tal.de überträgt. Der wiederum kann diese Daten auf einer Karte darstellen, zu der die WSW Zugang hätten. Die WSW sollten also jeder Zeit wissen können, wo genau welcher Bus unterwegs ist. Nun stellt sich die Frage: Wo ist nun die mangelnde Schnittstelle, diese Daten in Echtzeit an die Fahrgäste zu bringen, die sie unmittelbar benötigen?

Eine Stadt braucht einen verlässlichen Nahverkehr. Und natürlich sind Schwebebahnen und Busse, die wie geplant fahren, am besten. Aber das kann schiefgehen, weder Menschen noch Technik sind perfekt. Also braucht es dazu verlässliche Kommunikation. Auch hier gibt es schon gute Ansätze. Aber das geht noch offener! Im /dev/tal e.V. befassen wir uns schon immer mit offenen Daten und der Kommunikation dazu. Und fragen uns: Wie offen kann die WSW mit ihren Daten umgehen, damit nicht nur in irgendeinem Rechenzentrum das Wissen rattert, wo gerade der nächste Bus ist – sondern jederzeit bei allen Nutzer:innen des ÖPNV? Auf dass die Verkehrswende im Straßen- wie im Datenverkehr zügig voran komme.


Erstveröffentlicht am 08.12.2022 in der Printausgabe der WZ: https://www.wz.de/suche/utopiastadt+logbuch

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Logbuch

Ist das Müll oder funktioniert das noch?

Seit März 2021 erscheint in der Reihe »Logbuch Utopiastadt« regelmäßig eine Kolumne aus Utopiastadt im Wuppertaler Lokalteil der Westdeutschen Zeitung. Und hier auf der Seite.

Diese Kolumne ist von Konrad Tempe und David J. Becher:

Logbucheintrag 0.36

Was Müll ist, ist relativ. So waren Röhrenfernseher in den 1960er Jahren ein Luxusgut, jetzt gelten sie als veraltetet, wurden entsorgt und gegen Flachbildschirme ausgetauscht. Ein weiterer Aspekt ist Mode: So sind manche Marken zeitweise hip oder angesagt, sobald sie aber als unmodern oder uncool gelten, werden die Markenartikel schnell aussortiert oder entsorgt. Auch kann das Verständnis von Müll abhängig von Einkommen und Vermögen sein. Ist z.B. ein hochwertiges Produkt leicht defekt, dürfte eine Person mit viel Geld dieses schneller wegwerfen. Eine Person mit wenig Geld wäre in derselben Situation vermutlich eher bereit, sich um eine Reparatur zu kümmern. Auch räumlich gibt es Unterschiede im Verständnis von Müll. Zu denken sei etwa an Unterschiede zwischen Staaten oder zwischen ärmeren und reicheren Stadtteilen derselben Stadt.
Letztere kann man oft daran unterscheiden, was als Sperrmüll an die Straße gestellt wird. Somit sagt Müll immer auch etwas über die Gesellschaft aus, die ihn produziert. Und über zwischenmenschliche Verhältnisse: Was manche als Sperrmüll ansehen und entsorgen möchten, ist für andere wertvoll.
Die Herausforderung besteht darin, beide Perspektiven zusammenzuführen. Auch, um Ressourcen zu schonen: Wenn ein bereits hergestellter Gegenstand länger genutzt wird und nicht neu hergestellt werden muss sowie der mit der Entsorgung verbundene Aufwand entfällt, wird eine Menge Material und Energie gespart.

Wie kann eine Weiternutzung von unbenutzten Sachen erfolgen? Bei uns ist die Givebox wieder da, hilfreich sind auch die verschiedenen Bücherschränke in der Stadt. Dort sind die Kapazitäten jedoch begrenzt. Größere Mengen noch brauchbarer Dinge nehmen z.B. Second-Hand-Kaufhäuser an, wie das Brockenhaus oder das Kaufhaus der Kleinen Preise. Auch gibt es Tausch- oder Verkaufsmöglichkeiten wie Kleiderbörsen oder Flohmärkte. 
Nicht mehr benötigte aber noch essbare Lebensmittel können in Foodsharing-‚Fairteiler‘ gelegt werden. Diese öffentlichen Kühlschränke finden sich z.B. im Café Hutmacher oder am Arrenberg. Noch bequemer geht es per Foodsharing.de, dort online angebotene Lebensmittel werden von Interessierten sogar vor Ort abgeholt.
Eigentlich wäre auch der Sperrmüll eine gute Gelegenheit, als ‚Quartierstauschbörse‘ zu dienen. Kaum eine Studi-WG, die nicht mit Sofa, Küchenstühlen oder diversen Regalen vom Sperrmüll ausgestattet ist. Aber auch in gediegeneren Einrichtungen stehen oft originelle Wohnaccessoires, die beinahe in der Müllpresse gelandet wären. Und im Café Hutmacher steht kein Möbel, das nicht zuvor irgendwo anders lange Dienste geleistet und teilweise seinen Weg direkt vom Straßenrand in den Bahnhof gefunden hat.

Dabei gibt es allerdings noch ein entscheidendes Problem: Das Einsammeln und Weiternutzen von Sperrmüll stellt in Wuppertal eine Ordnungswidrigkeit dar, die mit mindestens 50 Euro geahndet wird. Ordnungsgelder gegen die Weiternutzung wertvoller Dinge – hier besteht dringender Handlungsbedarf, dies zu ändern!


Erstveröffentlicht am 10.11.2022 in der Printausgabe der WZ: https://www.wz.de/nrw/wuppertal/stadtteile/elberfeld/wuppertal-kolumne-ist-das-muell-oder-funktioniert-das-noch_aid-79684821

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Logbuch

Vom Geben

Seit März 2021 erscheint in der Reihe »Logbuch Utopiastadt« regelmäßig eine Kolumne aus Utopiastadt im Wuppertaler Lokalteil der Westdeutschen Zeitung. Und hier auf der Seite.

Diese Kolumne ist von David J. Becher:

Logbucheintrag 0.35

Seit sehr langer Zeit werden wir immer wieder gefragt, wo denn die Givebox geblieben ist: Der Spind, in den Menschen Dinge hinein tun können, die sie nicht mehr brauchen, damit andere diese Dinge mitnehmen und gebrauchen können. Eigentlich eine einfache Sache. Eigentlich … 
Dieses ‚Eigentlich‘, das so viele Anfragen an Utopiastadt durchzieht, hat Erich Kästner einst gut ausgeführt: »Es gibt nichts Gutes, außer, man tut es.« Und jetzt ist Thomas aufgetaucht, der mit einer utopiastadt-kompatiblen Beharrlichkeit so lange nachgehakt hat, was er tun kann, damit eine neue Givebox an den Start kommt, bis er an den richtigen Stellen gelandet ist. Jetzt bereitet er mit weiteren  Utopist:innen alles dafür vor, dass bald wieder eine Givebox an der Trasse steht!

Was mich dazu gebracht hat, mir mal wieder Gedanken über das Geben an sich zu machen. Eine Givebox ist ein guter Ort, um die vorzeitige Verwandlung von Nützlichem zu Abfall zu verhindern. Was aber ist mit der Hingabe von Arbeit, dem Bereitstellen von Räumen, dem Teilen von Wissen? 

In vergangenen Jahren ist mir gelegentlich die Frage gestellt worden, warum meine Arbeit in Utopiastadt nicht bezahlt würde. Mehr noch: Es wurde unterschwellig kritisiert, dass man solche Arbeit unentgeltlich zur Verfügung stellt. Worin ich unter Anderem eine seltsam verschobene Wertschätzung von Arbeit sehe: Wird sie unentgeltlich erledigt, gilt sie rasch als minderbewertet. Geben ohne direkten Gegenwert, also Schenken, ist gerade noch zu konkreten Anlässen vorgesehen, aber damit auch mindestens mit dem Gegenwert konventioneller Konformität belegt. Einfache Hingabe von Zeit, Leistung oder Dingen sorgt hingegen bei genauerer Betrachtung oft für Irritation. Aber wonach bestimmen wir eigentlich den Wert all unserer gesellschaftlichen Leistungen? Warum verdient eine Kindergärtnerin weniger als eine Studienrätin? Noch seltsamer: Warum verdient eine Studienrätin weniger als ein Studienrat? Und um es richtig kompliziert zu machen: Warum verdienen wir überhaupt etwas für unsere Arbeit? Oder umgekehrt: Warum müssen wir erst arbeiten, um etwas zu verdienen? 

Dabei will ich gar nicht auf den schon erfreulich breit diskutierten Ausweg des bedingungslosen Grundeinkommens hinaus. Sondern auf die Frage des bedingungslosen Gebens: Wir leben hier in einer ausgeprägten Überflussgesellschaft. Und ich persönlich habe grundsätzlich mehr als genug zur Verfügung. Das fühlt sich nicht immer unmittelbar so an, aber genau besehen bin ich weit entfernt von jeglichem Mangel.
Also arbeite ich in Utopiastadt mit all den Ressourcen, die mir nebenbei zur Verfügung stehen, an einer besseren Gesellschaft. Einfach so. Mit Hingabe. Im sprichwörtlichen Sinne. Dafür erwarte ich zunächst nichts, Bezahlung schon gar nicht, aber auch nicht Dank, Anerkennung, Sonderstellung, oder gar die in der Apostelgeschichte beschworene Seligkeit. Zunächst. Denn etwas erwarte ich schon – doch auch das nur, insoweit ich da selber Hand anlegen kann:
Eine bessere Gesellschaft.


Erstveröffentlicht am 13.10.2022 in der Printausgabe der WZ:
https://www.wz.de/nrw/wuppertal/stadtteile/elberfeld/kolumne-aus-wuppertal-es-gibt-nichts-gutes-ausser-man-tut-es_aid-78231863

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Logbuch

Ein Jahr auf einem Spielplatz für Erwachsene

Seit März 2021 erscheint in der Reihe »Logbuch Utopiastadt« alle 14 Tage eine Kolumne aus Utopiastadt im Wuppertaler Lokalteil der Westdeutschen Zeitung. Und hier auf der Seite.

Diese Kolumne ist von Frieda Langmaack:

Logbucheintrag 0.34

1.05.2022, 15:45 Uhr: Ich renne schreiend durch das Haus meiner Eltern in Dortmund und habe Freudentränen in den Augen. Warum? Ich habe gerade per Telefon eine Zusage für meinen Bundesfreiwilligendienst bei Utopiastadt erhalten. Und so kommt es, dass ich ein paar Monate später alles in meiner Heimatstadt zurücklasse und nach Wuppertal ziehe.

Eine konkrete Vorstellung, was diese Utopiastadt genau ist, habe ich nicht, aber was ich erlebe, als es endlich losgeht, übertrifft alle meine Erwartungen. Beschreiben könnte ich dies jedoch nicht so einfach und vermutlich werde ich auch in einem Jahr nicht in der Lage dazu sein. Die passendste Bezeichnung, die mir nach meinen ersten vier Tagen einfällt, ist folgende: Ein Spielplatz für Erwachsene. Der Mirker Bahnhof ist ein Ort, an dem Dinge ausprobiert werden können ohne die Angst zu haben, einen riesigen Einlauf zu bekommen, wenn mal ein Fehler passiert. Sei es, dass man sein eigenes Fahrrad im Reparaturcafé wieder in Schwung bringt, einen Garten bepflanzt oder die Verkleidung einer Wand abreißt, die Einstellung dabei ist eigentlich immer die gleiche: Einfach mal machen. Und genau das ist es, was ich nach einer Jugend in der Pandemie, in der fast alles, was ich vorhatte, ins Wasser gefallen ist, so sehr genieße. Dadurch werden mir Möglichkeiten gegeben, mich zu entfalten und meine Grenzen kennenzulernen. Statt mich vom Abiturstress direkt in den Lernstress von irgendeinem Studium zu stürzen, ist Utopiastadt fern von jeder Alltagssituation vermutlich genau die richtige Anlaufstelle für Personen wie mich, die überhaupt keine Ahnung haben, was sie mit ihrem Leben anfangen sollen.

Natürlich sind auch mühselige Arbeiten dabei, wie zum Beispiel, dass viel von A nach B geschleppt werden muss und dabei schon klar wird: Das wird morgen einen fiesen Muskelkater geben. Aber wie Alex immer so schön sagt: »Geteiltes Leid ist halbes Leid«. Und damit hat er Recht. Wenn gemeinsam angepackt wird, ist die Erfüllung und Freude, wenn eine Aufgabe geschafft ist, danach umso größer. Ich habe nach der bisher kurzen Zeit den Eindruck, dass genau dadurch hier eine Gemeinschaft aus Menschen besteht, die alle mit Herzblut dabei sind. Das merkt man jedem einzelnen an. So unterschiedlich die Personen, die ich bisher hier kennenlernen durfte, auch sind, genau das verbindet sie alle. Dennoch ist jeder Mensch hier auf die eigene Art und Weise speziell und wunderbar. Nicht nur manche Charakterzüge und Eigenheiten, sondern auch der Altersunterschied macht die Vielfalt aus. Es ist möglich, mit Personen jeden Alters interessante Gespräche zu führen, ohne das Gefühl zu bekommen, von oben herab als das Kind gesehen zu werden.

Durch all diese Tatsachen besteht in der Utopiastadt eine Atmosphäre, die man so sonst nur sehr selten spürt. Deshalb freue ich mich umso mehr, ein ganzes Jahr hier verbringen zu dürfen und hoffe, dass ich irgendwann ein Teil dieser Gemeinschaft der Utopist:innen werde.


Erstveröffentlicht am 08.09.2022 in der Printausgabe der WZ: https://www.wz.de/nrw/wuppertal/ein-jahr-auf-einem-spielplatz-fuer-erwachsene_aid-76468415

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Welchen Wert haben Werte?

Seit März 2021 erscheint in der Reihe »Logbuch Utopiastadt« alle 14 Tage eine Kolumne aus Utopiastadt im Wuppertaler Lokalteil der Westdeutschen Zeitung. Und hier auf der Seite.

Die heutige Kolumne ist von David J. Becher:

Logbucheintrag 0.33

Utopiastadt ist ein andauernder Gesellschaftskongress mit Ambitionen und Wirkung. Aber gilt das nicht auch für jeden Bürgerverein? Oder den Bundestag? Gilt das vielleicht sogar für die Familie, heute mehr als früher? Alleinerziehende, Patchwork, Stief- und Halbgeschwister, leibliche oder angenommene Väter – wer gibt vor, was richtig, was angemessen, was von Wert ist? Das ist heute nicht mehr von selbstverständlichen Normen durchzogen, sondern oft individuell verhandelbar. Und je individueller die Weltsichten, desto schwieriger die Verhandlung. Schließlich muss ich erstmal rausfinden, aus welcher Perspektive Du die Welt siehst. Nur, weil Du grün wählst, Lastenrad fährst und kein Fleisch isst, kann es ja trotzdem sein, dass Du ein total konservatives Familienbild hast, Fremde Dir suspekt sind und Du gerne dem Weg der sozialen Marktwirtschaft in den zügellosen Kapitalismus folgst. Vielleicht ziehst Du aber auch Deine Motivation, die Schöpfung bestmöglich zu schützen, aus einem tief empfundenen religiösen Glauben. Und ich sitze Dir als fröhlicher Agnostiker mit einem über 35 Jahre alten Diesel in der Garage und ’ner Currywurst auf dem Teller gegenüber und will mit Dir über Werte diskutieren.

Für so etwas braucht es einen Ort. Nein – dafür braucht es viele Orte! Bestenfalls ist jede Nachbarschaft so ein Ort. Aber es hilft, wenn spezielle Orte dafür Ambitionen bündeln und daraus Wirkung entfalten. So ein Ort ist Utopiastadt. Für mich. Und für viele andere. Für viele aber auch nicht, oder noch nicht, oder niemals – also gut, schon muss ich meine Aussage relativieren: Ein solcher Ort kann Utopiastadt sein.

Und schon sind wir mitten in dem, was viele Menschen gesellschaftlich verunsichert: Uneindeutigkeit. Dem gegenüber einige Gruppen zu gern das Vermisste vorgaukeln: Eindeutigkeit. Für gute Orientierung dazwischen hat mir eine Fähigkeit bisher am besten geholfen: Ambiguitätstoleranz. Das Aushalten von Widersprüchen. Ich brauche keine absolute Wahrheit, um Werte zu haben. Im Gegenteil: Einer meiner größten ist der Wert der Gegenseitigkeit. Als Wert ist er mir absolut, als Umsetzung aber zwangsläufig relativ. Das Paradox des Miteinander: Ich kann Dir nicht vorschreiben, wie wichtig Dir das Miteinander sein muss, wenn ich Dich als selbstbestimmtes Gegenüber ernst nehme. Aber ich brauche Deine volle Bereitschaft zum Miteinander, wenn es darum geht, Gegenseitigkeit auf Augenhöhe zu gestalten. Dieses Paradox, diese Ambiguität des Miteinander, muss ich aushalten können, um den Weg in eine Welt zu finden, in der Eigenwohl nicht der Widerspruch von Gemeinwohl ist, sondern dessen Ergebnis. 
Hups – jetzt hab ich ganz egoistisch die Gelegenheit genutzt, einen meiner Werte auszubreiten. Zunächst unwidersprochen, schließlich hab ich hier grad Kolumnenhoheit. Come fight me, Utopiastadt ist ein Ort dafür. Denn sie ist ein andauernder Gesellschaftskongress. Mit Ambitionen. Und egal, wie unsere Debatte über den Wert der Gegenseitigkeit verläuft – sicherlich hat sie auch Wirkung.


Erstveröffentlicht am 25.08.2022 in der Printausgabe der WZ: https://www.wz.de/nrw/wuppertal/logbucheintrag-033-welchen-wert-haben-werte_aid-75687241

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Logbuch

Zwischen Tür und Mangel: Das Bauhandwerk der Zukunft

Seit März 2021 erscheint in der Reihe »Logbuch Utopiastadt« alle 14 Tage eine Kolumne aus Utopiastadt im Wuppertaler Lokalteil der Westdeutschen Zeitung. Und hier auf der Seite.

Die heutige Kolumne ist von Charlotte Ridder:

Logbucheintrag 0.32

Montagmorgen. Ich sitze in einer Videokonferenz im Mirker Bahnhof mit meinem Team von »DigIT_Campus – Das Bauhandwerk der Zukunft«. Thema: Wie können wir weitere Handwerksbetriebe für unsere Workshop- und Beratungsangebote zu Digitalisierung, Nachhaltigkeit und Ausbildungsförderung begeistern?

In einer kurzen Bildschirm- und Verschnaufpause wandert mein Blick aus dem Fenster und meine Gedanken kreisen: »Bauhandwerk der Zukunft – was ist das eigentlich? Was braucht es, damit das Bauhandwerk attraktiv bleibt? Visionen, Leitbilder, Pläne, Ziele, Vorgaben und technische Möglichkeiten gibt es viele. Woran es mangelt, sind vor allem Hände. Viele und tatkräftige Hände.« Da sehe ich einen unserer Bundesfreiwilligendienstleistenden, der mir fröhlich vom Gerüst zuwinkt. Ich lächle und freue mich über diesen Utopisten im Einsatz, der sich mit Tatendrang dem alten Lack der Fensterrahmen widmet.

Utopiastadt, Mirker Bahnhof, eine ganz gegenwärtige Baustelle! Viele Hände von Fachfirmen und (ehrenamtlichen) Utopist:innen sind hier im Einsatz, um Utopien und Visionen Raum zu geben – Raum für Projekte wie DigIT_Campus, Veranstaltungen und für allerlei Ideen und Austausch. Dafür stehen in Utopiastadt allen die Türen offen: Sich an dieser Zukunftsbaustelle zu beteiligen und auszuprobieren.

Ich schaue an dem fleißigen Utopisten vorbei auf die Fläche, auf der noch vor kurzem der Solar Decathlon Europe stattfand. Er ist nun vorbei, aber die Eindrücke der vielen Visionen zur Gestaltung nachhaltiger Städte bleiben. War das vielleicht das Bauhandwerk der Zukunft? 
Und plötzlich lande ich mitten in der Vergangenheit: Als ich meinen Großvater gefragt habe, wie er eigentlich zu seinem Beruf kam, sagte er trocken: »Durch Zufall. Meine Mutter hat gesagt: ‚Du hast zwei gesunde Hände, mach das erstmal fertig. Schnaps verkaufen kannst du danach immer noch.’« Mit nur 21 Jahren wurde er Stuckateurmeister, machte sich selbstständig und ging schließlich mit diesem Beruf in Rente. Über ein halbes Jahrhundert später sitze ich hier und mache mir Gedanken über die Zukunft des Bauhandwerks.

Zurück in die Videokonferenz: Wir öffnen mit DigIT_Campus Türen: laden Handwerksbetriebe ein, gemeinsam mit uns Potenziale der Digitalisierung des Bauhandwerks zu erfassen, Hürden zu überwinden und Lösungen zu finden. Wir unterstützen dabei, Impulse passgenau in den eigenen Betrieb zu bringen – was auch für Nachwuchskräfte attraktiver ist, die alle so händeringend suchen. Vielleicht ist eine Handwerks-Ausbildung auch was für Deine persönliche Zukunft? Melde Dich, und wir finden es heraus!

Und das Bauhandwerk der Zukunft? Ich glaube, es ist das alles: Es ist die Vision, Großes zu schaffen, genauso wie im Kleinen einfach anfangen und weitermachen, auch, wenn es mal schwierig wird. Es ist Ausbildungsinhalte zukunftsfähig gestalten und es ist voneinander lernen. Es sind Menschen mit Tatendrang und Gestaltungswillen. Wir brauchen Visionen, wie wir Hände brauchen. Denn Hände bauen Zukunft.

Infos: www.digitcampus.de


Erstveröffentlicht am 28.07.2022 in der Printausgabe der WZ: https://www.wz.de/nrw/wuppertal/kolumne-aus-wuppertal-das-bauhandwerk-der-zukunft_aid-73658831

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Utopiastadt von A bis Z

Seit März 2021 erscheint in der Reihe »Logbuch Utopiastadt« alle 14 Tage eine Kolumne aus Utopiastadt im Wuppertaler Lokalteil der Westdeutschen Zeitung. Und hier auf der Seite.

Die heutige Kolumne ist von Amanda Steinborn:

Logbucheintrag 0.31

Kürzlich fand ja der SDE21 auf dem USC statt, dafür musste die USCRS natürlich weichen und einige Container stehen jetzt vor der GPA.*

Hä? Nicht klar geworden, was gemeint ist? Verständlich: Wie überall, gibt es in Utopiastadt mittlerweile so viele Abkürzungen oder interne Bezeichnungen, dass selbst mir es macnhmal schwer fällt, da durchzublicken. Kein Wunder, wenn Außenstehende zunächst nur Bahnhof verstehen.

Die Lösung kann ja aber nicht sein, halbe Kolumnen mit der Erklärung von Abkürzungen zu füllen. Und außerdem gibt es so viel mehr zu erzählen! Genau das haben sich einige Utopist:innen auch gedacht und feilen seit Jahren an einer Erklärfibel für Utopiastadt. Das passt mir sehr gut: Denn ich kann hier nicht nur Abkürzungen nachschlagen, die ich nicht verstehe, sondern vor allem auch das Utopiastadt Universum besser begreifen, von dem ich trotz langjähriger Beteiligung immer noch manches kaum kenne.

Wer vor der Pandemie auf unserer Jahresabschlußfeier war, konnte schon einen Vorgeschmack bekommen und auch selber Begriffe ergänzen. Von »Bernsteinzimmer« über »Hutmacher« bis »kooperative Stadtentwicklung« kann man nun Hintergründe nachlesen, mit denen Utopist:innen sich hier auseinandersetzen. Wieder eine Gelegenheit, bei der ich völlig unerwartet und ohne direkte Intention etwas gelernt habe: Wusstest du zum Beispiel, dass das LoRaWan eine drahtlose Netzwerktechnik ist, die es mit wenig Energie aber mit hoher Reichweite ermöglicht, Daten zu transportieren? Ich nicht. Oder dass Supagolf eine völlig zu unrecht von den Olympischen Spielen ignorierte Randsportart ist?

Neben Begriffen und Abkürzungen habe ich in den Jahren der Entstehung aber vor allem eins gelernt: Kollaboration braucht Zeit. Als die Planung schon zum dritten mal überzogen war, einige an eine Veröffentlichung kaum noch glaubten oder sie als zu utopisch abhakten, haben andere immer weiter Details ergänzt und sich mit Mühe und Liebe hinter das »Projekt Fibel« geklemmt, um ihre Utopie wahr werden und möglichst viele Stimmen und Sichtweisen zu Wort kommen zu lassen. So ist die Liste der Autor:innen lang und der Ideengeber:innnen noch länger – und das passt, denn Utopistadt ist ein Raum von Vielen für Viele, offen für alle mit Interesse am Anderen. Die Fibel ist nun ein Versuch, Überblick zu gewinnen über das, was vor Ort so gedacht und geleistet wird. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit – das wäre dann doch zu utopisch.

Neugierig? Bis zum offiziellen Release kann die Fibel noch zum Vorzugspreis von 32,– Euro im Café Hutmacher vorbestellt und dann am Sonntag, den 7.8. bei der Release-Veranstaltung abgeholt werden.

* Der obige Satz bedeutet übrigens, dass gerade auf den Flächen des Utopiastadt Campus der Solar Decathlon stattfand und dafür einige Container, die vorher auf der Fläche der »Utopiastadt Campus Raumstation« waren, jetzt vor der alten Gepäckabfertigung stehen.


Erstveröffentlicht am 14.07.2022 in der Printausgabe der WZ: https://www.wz.de/suche/Logbucheintrag

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Gedenkort Seebrücke: nur fünf Tage unbehelligt

Seit März 2021 erscheint in der Reihe »Logbuch Utopiastadt« alle 14 Tage eine Kolumne aus Utopiastadt im Wuppertaler Lokalteil der Westdeutschen Zeitung. Und hier auf der Seite.

Die heutige Kolumne ist von Renate Schatz:

Logbucheintrag 0.30

Am 21. Mai wurde der Gedenkort der Seebrücke Wuppertal eingeweiht. Es war ein Fest mit internationaler Musik, mit Glückwünschen und Dankesreden. Dann passierte es schon fünf Tage später: der Gedenkort wurde demoliert und mit Hassbotschaften verkratzt. Auf der Info-Tafel kann man die Abkürzung NSU für »nationalsozialistischer Untergrund« erkennen.

Wir von der Seebrücke waren innerlich darauf vorbereitet, dass Vandalismus an unserem neuen Denkmal nicht vorbei gehen würde. Ein Schock war es dennoch. Keine fünf Tage, dass dieser schöne Ort vor dem Mirker Bahnhof beschädigt wird. Drei Jahre hat es seit der Entwicklung der Idee gedauert, einem Erinnerungsort für alle Menschen, die auf der Flucht nach Europa ums Leben kamen, eine Gestalt zu geben. Viele haben daran mitgewirkt. Es wurden Kooperationspartner gefunden, Künstler*innen, Handwerker*innen. Sponsoren, Stiftungen, die Stadt Wuppertal, Firmen, Institutionen und Privatpersonen haben unsere Pläne unterstützt, finanziert und durchgeführt.

Im Vorfeld des Projekts hatten wir einige Hürden zu meistern: Der Lockdown hat uns eine einjährige Verzögerung gekostet und wir mussten die Preissteigerungen der Materialkosten kompensieren. Weil so viele engagierte Dienstleister für geringere Kosten oder sogar pro Bono gearbeitet haben und viele Menschen und Organisationen uns ideell und finanziell unterstützt haben, konnte das Boot mit der Gedenkstele und der Bepflanzung schließlich eröffnet werden.

Wir, die Seebrücke Wuppertal, werden weiter für ein offenes Europa eintreten, für das Recht auf Flucht und das Recht auf Ankommen und Asyl. Wir werden uns nicht von Menschen abschrecken lassen, die unsere politischen Forderungen, unsere humanitäre Haltung und Solidarität mit allen Geflüchteten, gleich welcher Herkunft, Hautfarbe, Religion oder geschlechtlicher Orientierung, nicht teilen und auf zerstörerische Weise bekämpfen. Wir erklären uns auch solidarisch mit Flüchtenden und Flüchtlingshelfer*innen, die kriminalisiert werden. Gerade läuft der Prozess gegen die einen Teil der Crew des Seenotrettungsschiffs Juventa in Italien. Es drohen 20 Jahre Haft für jede Person, die gerettet wurde und hohe Geldstrafen. Eine perfide und wahrhaft inhumane Auffassung der Anklage. Dagegen müssen wir protestieren.

Wir haben viel Unterstützung bei der Umsetzung unseres Gedenkortes erfahren. Und jetzt bleiben immer wieder Menschen stehen, schauen auf die Infotafel, betrachten das gekenterte Boot im blau blühenden Feld. Wir bitten Sie, liebe Anwohner*innen und Passant*innen im Umkreis des Gedenkorts, halten Sie die Augen offen und zeigen Sie ihre Solidarität. Damit setzen Sie ein Zeichen der Hoffnung, der Humanität, für Integration und Demokratie und für ein gelingendes Zusammenleben aller.


Erstveröffentlicht am 02.06.2022 in der Printausgabe der WZ: https://www.wz.de/nrw/wuppertal/gedenkort-seebruecke-wuppertal-nur-fuenf-tage-unbehelligt_aid-70699511

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Logbuch

Urlaub auf dem Bahnhofsklo

Seit März 2021 erscheint in der Reihe »Logbuch Utopiastadt« alle 14 Tage eine Kolumne aus Utopiastadt im Wuppertaler Lokalteil der Westdeutschen Zeitung. Und hier auf der Seite.

Die heutige Kolumne ist von Nina Bramkamp:

Logbucheintrag 0.29

Als Utopist*in denkt man möglicherweise, dass es nur einen Bahnhof geben kann. In Belgien wurde ich von diesem tiefen Glauben bekehrt, als ich Urlaub in wallonischen Bahnhofstoiletten machte. Nach der Stilllegung des Bahnhofs im Jahr 1989 wurde das Hauptgebäude in Wohnraum umgewandelt. Aus dem Toilettenhäuschen entstand Dank der phantasievollen Sanierung ein wundervolles Cottage.

Der Bahnhof dieses kleinen Ortes wurde 1863 erbaut und war ein florierender Ort des Reisens und Tor zur großen weiten Welt (in diesem Falle ohne Umsteigen bis nach Namur). Toiletten waren dabei schon immer ein besonderer Ort für Begegnungen.

Am Montag, den 12. Mai 1884 stand Léo auf Gleis 3 des wallonischen Bahnhofs und wartete auf die Ankunft des 12 Uhr Zuges nach Namur. Sein Magen knurrte. Dass die Bäckereien montags geschlossen haben, wurde ihm erst nach dem Aufstehen wieder bewusst. Er schaute sich hungrig auf dem Bahnhof um. Ein dreibeiniger Hund streunte zwischen den Gleisen umher, auf Gleis 1 erblickte er eine Frau mit einem Korb Hühner. Ein paar Orte weiter war Wochenmarkt, auf dem die Wallikiki als Suppenhühner verkauft werden sollten. Während des Wartens ereilte die Dame die Notdurft und sie ging eilend zu den Bahnhofstoiletten. Die Kabinen waren zu klein, so dass sie die Wallikiki unter dem Waschbecken stehen lassen musste. Léo begab sich ebenfalls zu den Toiletten, verpasste aber den Eingang für Messieurs und fand sich im WC Dames wieder. Die Hühner sahen ihn und entrüsteten sich lautstark, während sie erschrocken aus ihrem Korb sprangen. Léo vermutete unten im Korb Eier. Er griff zu einem Bündel im Korb und rannte aus der Toilette. Die walllonischen Hühner nahmen die Verfolgung auf. Madame kam nicht von der Stelle und musste die Flucht wild schimpfend hinnehmen. Alarmiert von dem Geschrei hüpfte der auf der Bahnhofsdeponie wohnende dreibeinige Hund aus seinem Salatbett und rannte kläffend in Richtung des Lärms. Er sah einen rennenden Mann, der gehetzt die Worte »oh je ne regrette rien« sang, gefolgt von wütend gackernden Walliki, die das Gleis 1 entlang jagten. Der Trieb des Tieres sprang an, allein schon wegen der appetitlichen Hühner. Er nahm bellend die Jagd auf und konnte schnell aufholen, während der Zug nach Namur auf Gleis 3 eindampfte und sich bereits an die Weiterfahrt machte. Der Mann, die Hühner, der Hund und das Geschrei von Madame flogen im gestreckten Galopp über das Gleisbett und sprangen in den Waggon. Während der Zug sich in Gang setzte, hatten sie das erste Mal die Gelegenheit, sich zu beschnuppern. Nicht nur Léo hatte Hunger und Essen vereint Mensch und Tier. So öffnete er den Proviantbeutel aus dem Hühnerkorb, der deponische Hund konnte ein paar Salatblätter und ein viertel Croissant, welches er noch in seinem Fell trug, beisteuern. Die Hühner legten zum Auftakt der Freundschaft jede ein Ei. 

Solche und andere utopische Geschichten werden sich auch am Mirker Bahnhof ereignet haben. Utopia is halt everywhere.


Erstveröffentlicht am 19.05.2022 in der Printausgabe der WZ: https://www.wz.de/nrw/wuppertal/neues-aus-der-utopiastadt-urlaub-auf-dem-bahnhofsklo_aid-69957533