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Logbuch

Lebhafter Frühling in der Mirker Straße

Seit März 2021 erscheint in der Reihe »Logbuch Utopiastadt« alle 14 Tage eine Kolumne aus Utopiastadt im Wuppertaler Lokalteil der Westdeutschen Zeitung. Und hier auf der Seite.

Die heutige Kolumne ist von David J. Becher:

Logbucheintrag 0.28

Als ich vor fast 16 Jahren in die Mirker Straße gezogen bin, blickte ich von meinem Arbeitszimmer auf eine Tankstellenbrache, eine Bahnhofsbrache, dahinter verrotteten ein paar Gleise vor einer mindergenutzten Gewerbefläche. Abgerundet wurde diese manifestierte städtebauliche Ignoranz von der Autobahn. Dead end eines Wohngebietes.

Am 1. Mai 2022 schaue ich aus dem Fenster auf eine durch bunte Plastiktüten künstlerisch verhüllte Hebebühne, auf deren Nebenplatz die Mirker Schrauba ihr 9-Jähriges mit einem Jubiläums-Fahrradreparaturcafé feiern. Daneben erblüht ein frühlingshergerichteter Utopiastadtgarten, dann schweift mein Blick über die Bahnhofs- sowie die Vorplatz-Baustelle.Nächstes Wochenende gibt es hier einen Workshop zur fachgerechten Sanierung alter Holzfenster in Utopiastadt (Sa. 7.5., 12-15 Uhr, Anmeldung: fenstersanierung@utopiastadt.eu). Am Wochenende darauf den Tag der Städtebauförderung, bei dem der Vorplatz offiziell eingeweiht wird. Mit Baustellenführungen, Pflanzaktion für das Seebrücke-Denkmal, Graffiti, Supagolf und vielem mehr (Sa. 14.5., 10-16 Uhr).Wieder einen Samstag später wird dann offiziell das Denkmal eingeweiht, das die Seebrücke Wuppertal als Gedenkort für ertrunkene Geflüchtete auf dem Bahnhofsvorplatz installiert hat (Sa. 21.5.).In der Zwischenzeit werden die Teams anreisen, die im Juni beim Solar Decathlon Europe auf dem Utopiastadt-Campus im Zehnkampf des nachhaltigen Bauens gegeneinander antreten, und beginnen, ihre Gebäude aufzustellen.

Niemals hätte ich beim Einzug gedacht, hier mal mitten im Zentrum der gemeinwohlorientierten Stadtentwicklung zu leben. Und das Besondere: Es waren weder Stadtverwaltung noch Politik, es waren keine Stiftungen oder Institutionen, es waren keine Firmen oder Investor:innen, die diese Entwicklung initiiert haben. Es waren frei zusammengewürfelte kreative Menschen, die ihre Entwicklungsimpulse nicht immer nur in hübschen Zwischennutzungs-Projekten verbrennen, sondern dauerhaft zur Verbesserung des Miteinanders in der Stadt einsetzen wollten. Und viele davon sind mehr oder weniger direkte Nachbar:innen, so wie ich.

All diese Menschen haben im Laufe vieler Jahre gezeigt, dass stetes Bemühen um Teilhabe, auch an den großen Stadtentwicklungen, am besten Wirkung zeigt, wenn man immer und immer wieder zusammenarbeitet. Auch, wenn es oft sehr unterschiedliche Vorstellungen gibt, was wann wie mit wem umgesetzt werden sollte.

Genau diese Auseinandersetzungen sind es, die verdeutlichen, dass Stadt nicht dann besonders gut ist, wenn nur eine Verwaltung oder ein Investor definieren, wie ein Ort zu sein hat. Sondern wenn die, die an diesem Ort leben, die, die ihn nutzen und die, die davon profitieren stets aufs Neue besprechen, wie es weiter gehen soll. Dann blüht in jedem Frühjahr erneut auf, was über die Jahre gesät, gehegt und gepflegt wird. Und je öfter ich das hier vor meiner Tür miterlebe, desto überzeugter bin ich: Gute Stadtentwicklung lebt nicht von schnellen Ergebnissen. Sie lebt vom Prozess.


Erstveröffentlicht am 05.05.2022 in der Printausgabe der WZ: https://www.wz.de/nrw/wuppertal/wuppertal-logbucheintrag-aus-der-utopiastadt_aid-69087707

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Landschaftsgestaltung unter Pandemiebedingungen

Seit März 2021 erscheint in der Reihe »Logbuch Utopiastadt« alle 14 Tage eine Kolumne aus Utopiastadt im Wuppertaler Lokalteil der Westdeutschen Zeitung. Und hier auf der Seite.

Die heutige Kolumne ist von Richard Joos:

Logbucheintrag 0.27

Über zwei Coronasommer grub ich mit einigen wackeren Mitstreitenden die Grünstreifen an der Auffahrt zur Nordbahntrasse am Mirker Bahnhof um. Statt Brombeerdschungel eine kleine Streuobstwiese, Bienenweide und Miniaturweinberg scheint per se eine gute Sache. Tatsächlich rettete es mich über die härteren Pandemiephasen, nach dem Homeoffice-Tag noch ein, zwei Stunden die Möglichkeit zu haben, an der frischen Luft ein Stück Stadt vor meiner Nase zu einem angenehmeren Ort zu machen.

Man erfuhr einiges: Gespräche mit Anwohnern entspannen sich über eine ausgegrabene und in der Folge weggestemmten Betonplatte. Gab es Flakstellungen um den Mirker Bahnhof während des Kriegs? (Es war wohl doch nur ein Bauschuppen mit schnell hingegossenem Fundament aus den Sechzigern.) Man wurde interessant wahrgenommen: warum ich hier Erde siebe, wenngleich auf der Fläche hinten Müll liege? Nun, weil ich in meiner Freizeit gern Dinge tue, auf die ich Lust habe, und gerade hab ich Lust aufs Erdesieben. Ich freue mich aber über jeden, der den Müll einsammelt, Samstag ist Workout. Erstaunlich oft wird von vorneherein ausgeschlossen, dass Menschen was einfach so machen, und nicht, weil es bezahlt wird.

Man bewirkte auch interessantes. Wenn man zwei Wochen jeden Abend schaufelt, trifft man Menschen wieder. Es ergaben sich erstaunliche Stimmungswechsel über die kurzen Gespräche: schleichende Übergänge vom skeptischen »Wer sich engagiert, wird ausgenutzt«, in der Regel begleitet von Geschichten über eigene schlechte Erfahrungen, hin zum gemeinsamen Freuen über den Fortschritt nach einer Woche. Kinder hingegen sind in der Regel interessiert bis begeistert, insbesondere, wenn man ein Nest Engerlinge oder spannenden Schrott ausgräbt.

Persönliche Folgen, neben besserem Schlaf und Bekämpfung der Corona-Bleischwere? Es ist unglaublich, wie man sich über Menschen freuen kann, die auf einer Trockenmauer sitzen und Eis essen, wenn man die Trockenmauer in der vorigen Woche fertig gebaut hat. Die erfreulichste Beschwerde der Welt: jemand habe die schönste Blumenwiese in Wuppertal abgemäht, ein Unding! (Es war nach dem letzten Blühen und schwer notwendig). Die zweite Apfelernte komplett geklaut: alles richtig gemacht.

Nun könnte man einmal mehr Worte darüber verlieren, wie wichtig Engagment und Ehrenamt in den Quartieren sei und sich selbstzufrieden auf die Schulter klopfen. Anders herum scheint es aber richtiger aufgezäumt: es ist eine unglaublich gute Sache, Menschen die Möglichkeit zu geben, ein Quartier mitzugestalten, schöner und lebenswerter zu machen. Ich hatte das Glück, eine solche Möglichkeit direkt vor der Nase zu haben. Denn letzten Endes spielt bei allem Engagement eine große Portion Egoismus eine maßgebliche Rolle: Ohne zwei Sommer Umgraben und Trockenmauern hätte ich mit einiger Sicherheit einen sehr handfesten Coronakoller bekommen. Mit solchen Orten vor der Nase kann man sogar aus einer Pandemie was schönes machen.


Erstveröffentlicht am 21.04.2022 in der Printausgabe der WZ: https://www.wz.de/nrw/wuppertal/stadtteile/elberfeld/landschaftsgestaltung-unter-pandemiebedingungen_aid-68264107

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18 Monate meines Lebens

Seit März 2021 erscheint in der Reihe »Logbuch Utopiastadt« alle 14 Tage eine Kolumne aus Utopiastadt im Wuppertaler Lokalteil der Westdeutschen Zeitung. Und hier auf der Seite.

Die heutige Kolumne ist von Canan Clara Yedek:

Logbucheintrag 0.26

Wenn man einen Freiwilligendienst antritt, tritt man mit gewissen Erwartungen an. Man macht sich Gedanken darüber, was man in diesem Jahr machen wird, was man für die Gesellschaft leisten kann und vor allem auch, was die Erfahrung einem selbst geben wird. Meine für einen BFD waren ganz simpel: Ich wusste nicht, was ich nach der Schule sonst machen sollte und brauchte dringend Unterstützung bei der Orientierung. Meine Intentionen dafür, zu Utopiastadt zu gehen, waren genauso simpel: als links/grüne Aktivismus-Jugendliche mit großem Interesse an Kunst und Kultur, passten Utopiastadt und ich einfach zusammen wie Arsch auf Eimer. Letztendlich war es, wie auch sonst, das Corona Virus, welches 90% meiner Erwartungen einen Strich durch die Rechnung machte. Veranstaltungen: abgesagt, Kunst und Kultur: online, Ich: enttäuscht.

Und so starteten dann meine 12 Monate Utopiastadt – von denen ich anfangs gedacht hätte, sie würden sich eher verkürzen. Nie hätte ich gedacht ich würde das Jahr verlängern, schliesslich hatte ich mir Kunst und Kultur vorgestellt und nicht Hammer und Bohrer. Aber so kam es dann: Ich, handwerklich unterbegabt, gerade mal dazu in der Lage, einen Nagel ins Holz zu hämmern, stand auf einmal vor der Aufgabe, einen Bahnhof zu sanieren.

Anfangs hielt ich mich etwas zurück, war distanziert den Menschen gegenüber, die ich kennenlernte und mit denen ich arbeitete, immerhin spielte ich noch mit dem Gedanken, abzubrechen. Als ich dann aber realisierte, was für ein wundervolles Team in und um Utopiastadt zusammenarbeitet, wollte ich doch unbedingt ein Teil davon sein. Ich schloss Freundschaften und hatte auf einmal eine Gruppe von Leuten um mich herum, die ich sehr lieb gewonnen hatte. Mit beachtlicher Geduld haben diese Personen mir dann Stück für Stück ihr handwerkliches Können beigebracht. Sie haben großes Verständnis für meine Grenzen aufgebracht und diese respektiert, mich gleichzeitig aber auch motiviert und ermutigt diese Grenzen zu überwinden. Unerwartet hatte ich irgendwann sogar Spaß daran mich handwerklich zu betätigen und habe vor allem die Freude daran entdeckt, mit einem Presslufthammer Böden in Schutt zu verwandeln und Fenster zu sanieren.

Ich konnte bei Utopiastadt jedoch nicht nur etwas übers Handwerk, sondern auch viel über mich selbst lernen. Das verdanke ich vor allem meinen Kolleg:innen und vielen Stunden intensiver, manchmal schon fast philosophischer Gespräche.

Rückblickend bereue ich keine einzige Sekunde der 18 Monate und würde mich immer wieder für Utopiastadt als Einsatzstelle entscheiden. Ich habe unglaublich viele Erfahrungen gesammelt, habe tolle Freundschaften geknüpft, habe dabei geholfen, einen wunderbaren Ort aufzubauen, an dem tolle Menschen zusammenkommen können, um ihre Ideen zu verwirklichen. Ich habe einen Ort gefunden, zu dem ich immer wieder zurückkommen werde, und es wird sich immer ein kleines bisschen so anfühlen, wie nach Hause kommen.

Aktuell suchen wir neue Bufdis. Bewerbungsschluss ist der 31.5.: Mitmachen!


Erstveröffentlicht am 07.04.2022 in der Printausgabe der WZ: https://www.wz.de/nrw/wuppertal/bufdi-in-der-wuppertaler-utopiastadt_aid-67866945

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Pläne schmieden, Plan haben, machen!

Seit März 2021 erscheint in der Reihe »Logbuch Utopiastadt« alle 14 Tage eine Kolumne aus Utopiastadt im Wuppertaler Lokalteil der Westdeutschen Zeitung. Und hier auf der Seite.

Die heutige Kolumne ist von Maximilian Schmies:

Logbucheintrag 0.25

Wenn ich an einem sonnigen Frühlingstag über die Nordbahntrasse entlang des Mirker Bahnhofs spaziere, dann begegnet er mir auf allen Sinnen: der unwiderstehliche Geist des MACHENS!

Unten im Garten summen fleissige Bienen und sammeln Nektar für Candys Frühlingshonig. Hinter dem Fenster des Coworkings sehe ich Patrick die Linse seiner Kamera putzen. Tobi und Alex sortieren Werkzeug in der Gepäckabfertigung und bereiten den anstehenden Workshop zur Fenstersanierung vor. Aus dem farbenfrohen Übersee-Container der Talbohne grüßen fröhlich Yvonne und Basti und es weht der Duft von geröstetem Kaffee herüber. Gleich nebenan macht sich Luka mit der Schweißerbrille auf der Nase daran, ihren eigenen Container in die Tortenmanufaktur KALU zu verwandeln. In der Fienchen-Garage werden von ehrenamtlichen »Schraubas« die Lastenräder flott gemacht. Ein paar Meter weiter, auf der Bank in der Sonne, spielt Jacob derweil ein neues Update für die Website auf. Ich winke Clara zu, die auf der Hutmacher Terrasse sitzt und die Schichtpläne für die Gastro-Crew aktualisiert. Lea und Kristin stossen mit einem hauseigenen Bärtig Bräu auf die Ausstellungseröffnung des Blaupausen Ideenwettbewerbs an. Gleich nebenan im Testzentrum behält Aaron trotz langer Schlange einen kühlen Kopf. Julian klärt mit der Band letzte Details für das Konzert heute Abend. Und aus dem Besprechungsraum hoch oben unter dem Dach des Bahnhofs dringt ein vielstimmiges Gemurmel.

Was machen die bloß alle hier, frage ich mich? Die Antwort ist so einfach wie überzeugend: mit Herzblut die eigenen Träume verwirklichen! 

In den Händen, Köpfen und Herzen der Utopist:innen schlummert ein unglaublicher Erfahrungsschatz. Ganz gleich ob ich ein Nachbarschaftsprojekt initiieren, mein Hobby weiterbringen oder ein eigenes Gewerbe auf die Beine stellen will. Irgendwo in Utopiastadt gibt es mit Sicherheit jemanden, der damit schon Erfahrung gemacht hat. Und mir Antworten geben kann auf die drängendsten Fragen, die auf meinem Weg warten. Fragen wie: »Kommt meine neue Idee wohl bei den Leuten an?«, »Was ist meine Arbeit wert?«, »Wie organisiere ich mein Team?«, »Wie melde ich eine Veranstaltung an?«, »Was ist der ideale Standort für meine Manufaktur?«, oder auch ganz was anderes.

Am Donnerstag, den 31. März um 18:00 starten wir in Utopiastadt mit einem neuen Format wo Know-How fürs Verwirklichen geteilt wird. Die Rede ist von »PLAN HABEN – die co-kreative Beratung für’s Machen!«. (Fast) immer am vierten Donnerstag des Monats im Utopiastadt Coworking öffnet sich ein Raum wo Menschen wie Patrick, Luka, Basti, Clara und ich voneinander lernen und in unserem Tun einen Schritt weiterkommen können. An alle Macher:innen da draußen möchte ich also ganz herzlich die Einladung aussprechen: Kommt nach Utopiastadt, bringt Eure Fähigkeiten und Herausforderungen mit und lasst uns gemeinsam weiterkommen! 

Mehr Infos rund um PLAN HABEN und den Geist des Machens in Utopiastadt: https://www.utopiastadt.eu/planhaben


Erstveröffentlicht am 24.03.2022 in der Printausgabe der WZ: https://www.wz.de/nrw/wuppertal/stadtteile/elberfeld/plaene-schmieden-plan-haben-machen_aid-67433823

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Vorbildliches Wuppertal

Seit März 2021 erscheint in der Reihe »Logbuch Utopiastadt« alle 14 Tage eine Kolumne aus Utopiastadt im Wuppertaler Lokalteil der Westdeutschen Zeitung. Und hier auf der Seite.

Die heutige Kolumne ist von David J. Becher:

Logbucheintrag 0.24

Wuppertal ist immer wieder vorbildlich. In einem Artikel über unsere Aktivitäten am Bahnhof Mirke schrieb die ‚Welt‘ 2015: »Lasst uns einfach mehr Wuppertal wagen!«. Und letztes Jahr erhielt Wuppertal beim ‚Bundespreis kooperative Stadt‘ der Nationalen Stadtentwicklungspolitik eine besondere Anerkennung, unter Anderem für den Utopiastadt-Campus-Flächenentwicklungsbeirat (UCF). Auch hier ist die Stadt erneut Vorbild für kooperative Stadtentwicklung zwischen Immobilienwirtschaft, Verwaltung und gesellschaftlicher Initiative. Aber was ist eigentlich kooperative Stadtentwicklung?
Was es nicht ist: In einer Kolumne abschließend zu klären. Was es für mich ist: Alle Mühen wert!

Natürlich kann man eine Bundesbahndirektion, eine zentrale Fläche vor dem Hauptbahnhof oder das Bergische Plateau privaten Investment-Firmen überlassen. Dann ist Gesellschaft eben dauerhaft davon abhängig, was diese daraus entwickeln wollen oder können und muss in jedem Fall damit rechnen, dass sie ein mehr oder weniger deutliches Interesse daran haben, private Profite aus ihren Orten zu ziehen. Diese Entwicklungen sind zwar durch Gesetze und Verordnungen eingegrenzt und innerhalb derer verhandelbar. Aber am Ende geht es bei Entscheidungen darum, wer am längren Hebel sitzt, was demokratische Prozesse oft eher hemmt, als sie zu stärken. Zudem, und das ist sicherlich ein wichtiger Faktor, warum diese Prozesse so üblich sind, sind wir als Gesellschaft sehr an sie gewöhnt. Und sie sind vordergründig schön einfach: Irgendwer kommt, zahlt und regelt.

Anders bei kooperativer Stadtentwicklung:
Im UCF mussten wir ein gemeinsames Verständnis von Stadtentwicklung finden, Fragen von Invest und Ertrag diskutieren, Entwicklungszenarien am Gemeinwohl orientieren, eine Gesprächs-, Vereinbarungs- und Abstimmungskultur entwickeln, alles sinnvoll dokumentieren und in ein Ergebnispapier fließen lassen. All das haben damals Stadtentwicklung, Wirtschaftsförderung, Aurelis und wir unter guter Moderation erfolgreich hinbekommen! Das entwickelte Rahmenkonzept wurde dem Stadtentwicklungsausschuss vorgestellt, ist nach wie vor im Ratsinformationssystem abrufbar und, am Wichtigsten: Es ist eine hilfreiche Grundlage für Entwicklungsentscheidungen am Bahnhof Mirke.

Auch so ein Weg ist also gangbar. Und entgegen gewohnter Vorstellungen schafft so ein Prozess nicht trotz, sondern wegen der anspruchsvollen Auseinandersetzungen einen großen Mehrwert. Vorausgesetzt, man sieht Gemeinwohl nicht als buntes Extra, wenn ein bißchen Geld für Kreativ-Workshops, Konzerte oder Kinderbetreuung über ist, sondern erkennt es schon im Weg der gemeinsamen Entwicklung.

Artikel 14 unseres Grundgesetzes sichert individuelles Eigentum. Im ersten Satz. Im zweiten belegt es dieses mit einer klaren Pflicht: »Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen«. Der Utopiastadt-Campus ist ein andauernder Gesellschaftskongress, um kooperativ herauszufinden, wie das besser gelingen kann, als bisher.


Erstveröffentlicht am 10.03.2022 in der Printausgabe der WZ: https://www.wz.de/nrw/wuppertal/stadtteile/elberfeld/vorbildliches-wuppertal_aid-67016737

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Bildet Informationsfahrgemeinschaften!

Seit März 2021 erscheint in der Reihe »Logbuch Utopiastadt« alle 14 Tage eine Kolumne aus Utopiastadt im Wuppertaler Lokalteil der Westdeutschen Zeitung. Und hier auf der Seite.

Die heutige Kolumne ist von Benedikt Matthes:

Logbucheintrag 0.23

In der letzten Kolumne ging es um den Verkehrswandel. Davor um smarten Umgang mit Daten. Wir in Utopiastadt denken Dinge gerne in Zusammenhängen – was also ist mit smartem Verkehr? Die Stadt Frankfurt am Main will Lärm und Schadstoffe im Straßenverkehr reduzieren, in dem sie eine App herausgibt (trafficpilot), welche abhängig von Position und Fahrtrichtung die Geschwindigkeit anzeigt, die man einhalten sollte, um an der nächsten Ampel nicht bei Rot stehenbleiben zu müssen. 441 Lichtzeichenanlagen schicken dafür Daten in die Verkehrsleitzentrale, wo die Informationen ausgewertet und aufbereitet werden. Die App hat rund 256.000 Euro gekostet und wurde leider nicht als Open Source herausgegeben. Schade, denn immerhin sind nicht wenige öffentliche Mittel dafür ausgegeben worden. Gut hingegen finde ich, dass diese App auch von Radfahrenden genutzt werden kann. Toll, dachte ich, das will ich hier in Wuppertal auch haben. Schnell war mein Smartphone gezückt, die Twitter-App geöffnet, der Account der Stadt Wuppertal adressiert und … dann hielt ich inne. Denn eine fancy, aber geschlossene App, die immerhin Positionsdaten ihrer Nutzenden erhebt und in den Datenschutzbedingungen Versprechungen macht, die man nicht unmittelbar nachprüfen kann, macht den Verkehr einer Stadt noch lange nicht smart.

Dies tun, ich sagte es vor 4 Wochen schon, nur Menschen. Und daran mangelt es auch im Verkehrsdezernat, welches besser ausgestattet gehört. Wenn Herr Slawig Anfang Januar im lokalen Radio behauptet, die Stadt könne sich die Verkehrswende nicht leisten, lässt er dabei außer Acht, dass es uns noch viel teurer zu stehen kommt, wenn wir so vehement auf die Auto-Zentrierung in der Stadtentwicklung beharren. Der Klimaschutz wird in dieser Argumentation ebenso außer acht gelassen wie soziale Faktoren insbesondere in einer Innenstadt. Ein vernünftig ausgestattetes Verkehrsdezernat hat die Zeit und damit die Möglichkeiten, den Verkehr ganzheitlich und neu zu denken – jenseits von kleinen und symbolischen Modellversuchen, wie wir gerade einen am Laurentiusplatz betrachten können und wo auch gerade die Autofahrenden am lautesten gegen den Modellversuch agitieren. Wirklich smart wird unsere Stadt nicht, wenn wir nicht mutiger und offener für neue Wege der Gestaltung sind. Herr Slawig sollte nicht das kommende Bürgerbeteiligungsverfahren für ein neues Mobilitätskonzept von vornherein mit solchen Äußerungen torpedieren und die Bürger*innen entmutigen, daran teilzunehmen.

Der Hersteller von Trafficpilot listet auch Wuppertal auf seiner Seite mit dem Hinweis »im Aufbau«. Ich hoffe jedoch nicht, dass die Stadt trafficpilot bloß marketingwirksam adaptiert, sondern die Datenbasis als offene Daten herausgibt – die die App dann gerne verwenden kann, die aber andererseits auch neue Formen der Wissenschaft, nämlich Bürger*innen-Wissenschaft (Citizen Science) und damit sachlichere Debatten möglich machen.

Das wäre smart.

Am 5. März ist Open Data Day 2022. Mehr dazu in Kürze auf opendatal.de.


Erstveröffentlicht am 24.02.2022 in der Printausgabe der WZ: https://www.wz.de/nrw/wuppertal/stadtteile/elberfeld/bildet-informationsfahrgemeinschaften_aid-66552375

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Wenn Autos den Verkehr blockieren

Seit März 2021 erscheint in der Reihe »Logbuch Utopiastadt« alle 14 Tage eine Kolumne aus Utopiastadt im Wuppertaler Lokalteil der Westdeutschen Zeitung. Und hier auf der Seite.

Die heutige Kolumne ist von Christoph Haberer und David J. Becher:

Logbucheintrag 0.22

Niemand steht gerne im Stau. Und doch setzen sich viele Menschen immer wieder hinters Lenkrad und stellen sich zu den hunderten anderen Autos in den Stau oder die Schlangen vor Ampeln. Und stehen damit sich selbst und allen anderen Verkehrsteilnehmer:innen im Weg. Mit anderen Worten: Autos blockieren den Verkehr.

Ganz nüchtern betrachtet sagen die einschlägigen Statistiken, dass rund die Hälfte aller Autofahrten kürzer sind als 5 km. Die Gründe, ein Auto zu nutzen, sind dabei wohl eher emotional als rational: Bequemlichkeit, Widerwillen gegen Bus und Bahn, die eigene Komfortzone, lieber sitzen als sich bewegen, gefühlte Sicherheit, das Ausführen eines Statussymbols, das Gefühl von Freiheit, Werbeversprechen – und natürlich das, was rationalen Entscheidungen am häufigsten im Wege steht: Gewohnheit.
Würden wir uns rational verhalten, müssten wir Verkehrsmittel wählen, die für Kurzstrecken wesentlich geeigneter wären. Ein Großteil der Autofahrten würde wegfallen und denen, die tatsächlich notwendiger Weise im Auto unterwegs sind, nicht den Verkehrsraum blockieren.

Aber auch Autos, die gerade nicht zuverlässig im Stau untergebracht sind, sind eine Last für den Verkehr. Feuerwehr oder Müllabfuhr auf dem Ölberg können mehrstrophige Klagelieder von zugeparkten Straßen singen. Sogar der Busverkehr wird dort regelmäßig von abgestellten Autos aufgehalten. Kurz: Offensichtlich gibt es in der Stadt zu viele Autos.

Und hier schlagen wir den Bogen zu Utopiastadt: Dort hat die IG Fahrradstadt-Wuppertal (FSWPT) Radfahrende auf der Nordbahntrasse gezählt. Teilweise sind davon dort über 1000 pro Stunde unterwegs. Und das ohne Stau. Die Trasse kann also genauso viele Menschen bewegen wie eine Autostraße. Hat aber nur die halbe Breite, verursacht bloß einen Bruchteil der Lärm- und Feinstaubemissionen und keinerlei Schadstoffemissionen (von der heißen Luft mal abgesehen, wenn sich Politiker:innen dort für Pressefotos mal aufs Rad setzen …).
Wer hier seine Autofahr-Routine mal vorsichtig verlassen und sich auf dem Rad ausprobieren will, kann das in den Sommermonaten beim spendengetragenen Radverleih tun. Und wer tatsächlich logistische Bedarfe auf’s Fahrrad verlagern will, kann das mit der Lastenrad-Flotte von Utopiastadt und FSWPT das ganze Jahr erledigen. Sollte darüber hinaus doch mal ein Auto nötig sein, gibt es auf dem Bahnhofsvorplatz eine Carsharing-Station. Und Bushaltestellen sind auch nicht weit.
Natürlich sind noch viele Fragen zum Verkehrswandel offen. Wer dabei mitdiskutieren will, kann das zum Beispiel heute Abend um 18:30 Uhr bei der Quartierskonferenz zu Mobilitätsstationen tun. Anmeldung unter https://mobilstationen-im-quartier.de

Auch diejenigen, die wirklich aufs Auto angewiesen sind, sollten sich schon aus purem Egoismus dafür einsetzen, dass alle anderen Verkehrsmöglichkeiten, gute Fuß- und Radwege sowie die ÖPNV-Infrastruktur massiv ausgebaut werden. Denn alle, die vom Auto auf Bus oder Fahrrad umsteigen, stehen nicht mehr vor einem im Stau.


Erstveröffentlicht am 10.02.2022 in der Printausgabe der WZ:
https://www.wz.de/nrw/wuppertal/stadtteile/elberfeld/wenn-autos-den-verkehr-blockieren_aid-66106659

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Wann ist eine City smart?

Seit März 2021 erscheint in der Reihe »Logbuch Utopiastadt« alle 14 Tage eine Kolumne aus Utopiastadt im Wuppertaler Lokalteil der Westdeutschen Zeitung. Und hier auf der Seite.

Die heutige Kolumne ist von Benedikt Matthes:

Logbucheintrag 0.21

Mit einer Smart City assoziieren viele Menschen zuerst eine durchdigitalisierte Stadt. In einer solchen Stadt kaufen die Menschen Bustickets mit dem Smartphone, kontrollieren mit demselben Endgerät den Flußpegel, reservieren sich eine Karte fürs städtische Theater und nehmen an Bürgerbeteiligungsverfahren teil, indem sie für oder gegen etwas stimmen, was die Lokalpolitik und/oder Stadtverwaltung nicht einfach so verordnen oder machen will. Überwachungskapitalist*innen führen auch gerne die smarte Straßenlaterne an, die nicht bloß leuchtet, wenns dunkel wird, sondern auch noch Videoüberwachung enthält, welche mit Fußgängererkennung, Kfz-Kennzeichenleser, Umweltsensoren, ein Mikrophon mit Schuss-Detektor und einen Location-Beacon zum Erfassen der Position aufwarten. Wenn dann noch ein freies WLAN dazu kommt, mit dem man die Position des Smartphones sehr sauber und präzise erfassen kann, sind verkehrsmittelübergreifende Bewegungsprofile zum greifen nah. Informationen, auf die bislang aus gutem Grund nur Ermittlungsbehörden unter Richtervorbehalt Zugriff hatten. Diese Idee der Smart City hat völlig zu Recht den Big Brother Award 2018 gewonnen. Diese Idee von Smart City ist das Gegenteil dessen, was entscheidungsfreudige und engagierte Menschen ausmacht.

Denn machen all diese Bequemlichkeiten für Menschen wie Behörden eine Stadt wirklich intelligent? Intelligenz ist, gelinde gesagt, überdurchschnittlich wenigen Gegenständen vergönnt, sondern allenfalls uns Menschen. Menschen machen eine smarteStadt intelligent, schlau, aber auch elegant, wenn ich meinem Englisch-Wörterbuch glauben darf. Damit wir Menschen aber intelligente Entscheidungen treffen können, bedarf es Informationen. Über die Menge und Genauigkeit von Informationen, die für mündige Entscheidungen nötig sind, wird seit jeher viel und leidenschaftlich gestritten, auch in unserer Stadt. Offene Daten sind dafür ein Mittel, niemals Selbstzweck. Welche Erkenntnisse gewinnen wir als Bürger*innen einer Stadt aus den offenen Daten, die sie bereits auf offenedaten-wuppertal.de bereitstellt? Welche Daten fehlen noch, um auf bestimmte Fragen bessere Antworten finden zu können? Müssen lediglich die Stadtverwaltung und ihre kommunalen Betriebe Zuliefernde für allerlei (nicht personenbezogene) Daten sein, oder können oder sollen dies womöglich auch die Bürger*innen einer Stadt sein? Und wenn ja, welche Daten können das sein? Welche Sensoren sind dafür geeignet? Welche Darstellungsmöglichkeiten bieten sich an? Und welche Daten helfen Wuppertal schlussendlich, zu einer intelligenten, eleganten Stadt zu werden? Eine Stadt, die ihre Mobilitätsprobleme nicht allein mit fancy Apps lösen will, sondern auch mit mehr Radwegen und mit engerem Austausch zwischen allen Menschen, die das Miteinander im Straßenverkehr aktiv mitgestalten wollen. Wirklich intelligent wäre, all dies zusammen zu führen und einander zuzuhören. Lasst es uns versuchen – am Open Data Day, 5. März 2022.


Erstveröffentlicht am 27.01.2022 in der Printausgabe der WZ: https://www.wz.de/nrw/wuppertal/stadtteile/elberfeld/logbucheintrag-021-wann-ist-eine-city-smart_aid-65678823

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Gute Vorsätze – oder wenn es mal wieder länger dauert.

Seit März 2021 erscheint in der Reihe »Logbuch Utopiastadt« alle 14 Tage eine Kolumne aus Utopiastadt im Wuppertaler Lokalteil der Westdeutschen Zeitung. Und hier auf der Seite.

Die heutige Kolumne ist von Amanda Steinborn:

Logbucheintrag 0.20

Was wäre der Start ins neue Jahr ohne gute Vorsätze? Mehr Sport, gesünder essen, mal Urlaub machen oder Anderen Gutes tun. Die Liste ist lang und meistens flüchtig.

Gute Vorsätze eigenen sich hervorragend dafür, das soziale Gewissen zu stärken. Oft landen sie auf To-Do Listen, die immer länger werden, und bei denen klammheimlich irgendwann ein paar Punkte hinten runter fallen. Hier sorgt das leider schon mal dafür, dass ein Fahrrad trotz bester Vorsätze unverliehen oder eine Mail unbeantwortet bleibt.

Welchen Sinn haben sie also, die guten Vorsätze? Warum nicht einfach frei machen davon?

Ich nehme mir grundsätzlich zu viel vor. Meistens geht es dabei nicht darum, etwas für mich zu tun, sondern hier noch ein Projekt zu machen oder dort noch Hilfe anzubieten. Oft merke ich zu spät, dass der Tag nur 24 Stunden hat und ich nicht alle aufgebauten Erwartungen erfüllen kann. Trotzdem ist es mir wichtig, weiterhin den guten Vorsatz zu behalten, mich nicht nur für mich, sondern auch für Andere zu engagieren. Das sogenannte Ehrenamt begleitet schon so lange mein Leben, dass es mir nicht nur in den Blutkreislauf übergegangen ist, sondern ich mich auch schon früh entschieden habe, es strukturell in meinen Alltag einzubauen. So kam für mich beispielsweise nie in Frage, eine Festanstellung in Vollzeit anzunehmen, damit mir Raum für Engagement bleibt – bezahlt oder unbezahlt.

Meine Motivation dahinter ist intrinsisch. Ich habe das tief verankerte Gefühl, der Gesellschaft etwas geben und einen aktiven Beitrag zum Gemeinwohl leisten zu wollen, ohne dass dies für mich zu einem direkten Vorteil führt. Diese Einstellung muss mensch sich leisten können: Ich bin mir sehr wohl bewusst, dass unser System sie mir zum einem ermöglicht und zum anderen ausnutzt, indem große Teile der Gesellschaft ohne Ehrenamt vollkommen zusammenbrechen würden. Mein guten Vorsätze führen mich also in das Paradox, gebraucht und ausgenutzt zu werden. Trotzdem ist es meine freie Entscheidung, mich einzubringen und zu engagieren.

In einer auf Basis von Lohnarbeit durchgetakteten Welt entsteht dabei oft auch im Ehrenamt der Druck von außen, alles zeitnah und komplett zu erledigen.
Um meine guten Vorsätze in die Tat umsetzen, ist Motivation der Motor, der mich antreibt. Doch Motivation braucht Zeit, sie hat ihren eigenen Rhythmus. Zu viel Takt nimmt ihr die Luft. Ehrenamt funktioniert nach anderen Regeln, weil es eben nicht nur um die Erledigung von Aufgaben, sondern um ein Gefühl von Verbundenheit oder Gemeinschaft, die Steigerung des Selbstwertes oder andere innere Bedürfnisse geht. Natürlich kann die Motivation durch äußere Gegebenheiten gefördert werden. Der eigentliche Antrieb kommt jedoch von innen. Dabei hält sich der eigene Rhythmus nicht immer an den Takt, den die Welt nach außen vorgibt.

So ist es richtig, dass Ehrenamt eben auch mal länger dauert – oder nicht alle Räder gewartet und im Verleih sind. Aber im Frühjahr sind sie wieder auf der Straße. Das ist zumindest unser fester Vorsatz.


Erstveröffentlicht am 13.01.2022 in der Printausgabe der WZ: https://www.wz.de/nrw/wuppertal/stadtteile/elberfeld/gute-vorsaetze-fuer-das-neue-jahr-oder-wenn-es-mal-wieder-laenger-dauert_aid-65258235

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Wie wichtig darf Ehrenamt sein?

Seit März 2021 erscheint in der Reihe »Logbuch Utopiastadt« alle 14 Tage eine Kolumne aus Utopiastadt im Wuppertaler Lokalteil der Westdeutschen Zeitung. Und hier auf der Seite.

Die heutige Kolumne ist von Richard Joos:

Logbucheintrag 0.19

Freudiger Kolumnenanlass: Beim Engagementpreis NRW 2021 hat Utopiastadt zu Nikolaus den Sonderpreis der NRW-Stiftung gewonnen. Das diesjährige Motto lautete »Engagierte Nachbarschaft«, und dazu passt Utopiastadt. Tags zuvor am 5.12. war der »Tag des Ehrenamts«, im Sommer war Flutkatastrophe, seit zwei Jahren ist Coronakrise, Engagement und Ehrenamt ist offensichtlich notwendiger und wichtiger denn je.

Ehrenamt ist aber nicht nur wichtig: es macht Spaß, stiftet Sinn und Gemeinschaft. Es macht sich sogar gut in Lebensläufen. 30 Millionen Bürger engagieren sich in Deutschland 5 Milliarden Stunden lang pro Jahr. Das berichtet der Bundesverband der Vereine und des Ehrenamtes. Mehr würde aber auch nicht schaden. Was hält die Nicht-Engagierten ab?

Freiwillig tätig zu sein, ist in mancher Hinsicht ein Privileg – denn man braucht entsprechende Ressourcen in Sachen Zeit, Kompetenzen und passender Infrastruktur. Wer ist neben den Alltagsverpflichtungen und diversen Flexibilitätszwängen präsent und frei genug, um sich in Strukturen einzubinden? Sich »flexibel zwei Stunden engagieren«, wie man zwei Stunden ins Fitnessstudio geht, ist selten möglich. Und mit mancher Tätigkeit übernimmt man eben auch Verantwortung und Verpflichtungen. Wer hat davon nicht ohnehin schon genug?

An der Stelle kann Ehrenamt auch durchaus zu wichtig werden. Dass freiwilliges Engagement Härten abfedert, die der Kahlschlag im Sozialbereich hinterlassen hat, ist keine neue Erkenntnis. Freiwillige Arbeit versorgt seit langem auch existenzielle Bereiche. Zwar sei die Sicherung des Existenzminimums rechtlich garantiert. Es sollten demnach weder Tafeln noch Foodsharing nötig sein, um Menschen ausreichend mit Nahrung zu versorgen. Allein, sie werden betrieben, aufgesucht und sie werden für ihr Engagement geehrt. Dass parallel dazu das Retten weggeworfener Lebensmittel aus Containern kriminalisiert wird, ist eine bittere Pointe.

Dass bedürftigen Menschen von Amts wegen Beratung und Hilfe zusteht, ist gesetzlich geregelt. Zu viele Existenzen hängen aber von den ehrenamtlichen Hilfen beim Formularausfüllen und bei Behördengängen ab, von freiwillig Aktiven, die Hilfsbedürftigen die notwendigen Informationen überhaupt erst liefern. Wenn hoheitliche Aufgaben ins Ehrenamt ausgelagert werden, wenn Ehrenamt sozialstaatliche Aufgaben erfüllen muss, die zuständige Akteure nicht mehr wahrnehmen, dann ist das ein untragbarer Zustand.

Ehrenamt wird – für Tätige wie Unterstützte – auf sehr ungute Weise zu wichtig, wenn darauf nicht mehr ohne drastische Folgen verzichtet werden kann. Freiwilligkeit und Freude wird schnell zu Verpflichtung und Bürde, wenn das Ausbleiben der ehrenamtlichen Leistung Existenzen gefährdet.

Utopiastadt, immerhin, ist glücklicherweise ein angenehmes Ziel fürs Ehrenamt. Man kann sich engagieren. Und man kann es auch mal eine Woche lassen, ohne dass jemand in Existenznot gerät. Und das ist gut so.


Erstveröffentlicht am 15.12.2021 in der Printausgabe der WZ: https://www.wz.de/nrw/wuppertal/stadtteile/elberfeld/wuppertal-engagementpreis-fuer-utopiastadt_aid-64655859